Werkzeugkunde im Grenzbereich

Was will man mehr: Schönes Wetter, eine topmoderne Rennstrecke, ein sportliches Auto und zu allem hin das Wissen für den heutigen Tag einen der begehrten Plätze bei einem Perfektionstraining am BILSTER BERG ergattert zu haben.

„Coolness ist das oberste Gebot, lockere Unterlippe und keine weißen Fingerknöchel“. So lauten die Grundsätze von Instruktor Horst von Saurma, bevor es hinaus geht auf die Rennstrecke. Noch eine aufmunternde Ergänzung: „Keine Sorge, wir nähern uns dem Grenzbereich von unten an.“ Der Ort: Die Rennstrecke BILSTER BERG, gelegen in den Ausläufern des Teutoburger Waldes zwischen Kassel und Paderborn. Der Instruktor: Horst von Saurma, Fahrdynamik-Experte, Teilnehmer zahlreicher Auto- und Motorradrennen, darunter 24 Starts beim 24 Stunden-Rennen auf dem Nürburgring. Bereits seit 1991 führt er in die Geheimnisse des schnellen und sicheren Fahrens ein.

Für diesen Track Day auf dem BILSTER BERG bringen die Teilnehmer ihre Fahrzeuge gewöhnlich selbst mit. Die Alternative: gegen eine Tagespauschale stellt der BILSTER BERG Fahrzeuge zur Verfügung. Zum Beispiel einen 310 PS starken Golf R, den schlankeren Polo R mit 220 PS oder die kraftvolleren 350 PS eines Cayman S.

Diese Rennstrecke wird gerne als kleine Nürburgring-Nordschleife bezeichnet. 4,2 Kilometer lang, Kurven mit ganz verschiedenen Radien bis hin zur sehr schnellen „Mutkurve“, leicht bergab und leicht nach außen hängend. Hinzu kommen Gefällestrecken von bis zu 26 Prozent. Horst nimmt nie mehr als vier Teilnehmer mit auf diese Tagesreise. Los geht’s: Der Instruktor vorne weg im mit 550 PS befeuerten  Jaguar F-Type R. In den Fahrzeugen dahinter ist über Funk etwas scheppernd seine Stimme zu vernehmen: „Folgt genau meiner Linie“; „nutzt die Fahrbahn bis zum letzten Zentimeter aus“; „nehmt den Schwung mit auf die Zielgerade“. Horst redet so ruhig, als würde er zuhause auf dem Sofa den Zusammenbau eines Küchenmixers erklären.

Kurz anbremsen vor einer Kuppe, dann links obendrüber und schon geht es ganz tief hinunter in die Mausefalle. Wieder die Stimme aus dem Off: „Wenn der Wagen sich gesetzt hat, aufs Gas“. Mit viel Power nun steil hoch in eine blinde Rechtskurve. „Wenn ihr dort richtig einlenkt, passt die nächste Links perfekt“. Wie war das nochmal? Von analog Gas geben und Bremsen hat Horst vor der Fahrt gesprochen, digital ist out. „Gas anlegen“ lautet das Zauberwort, also sanft aufs Pedal und nicht voll drauf. Bremsen geht ebenso. Für Horst ist das Fahrzeug ein Werkzeug, „und es ist doch schön, wenn einer sein Werkzeug beherrscht.“ Er liefert die Bedienungsanleitung, in Theorie wie Praxis.

Es ist ein steter Wechsel über den ganzen Tag hinweg: Eine halbe Stunde fahren, in der Pause von rund 30 Minuten bleibt Zeit für Gespräche. „Warum ich so ruhig rede?“ Horst lacht: „Wenn einer auf die Rennstrecke kommt, hat er Adrenalin bis über die Pupillen, ist nervös, Puls mehr als 120, Herzrasen ist nicht weit – und dann ist man zum Scheitern verurteilt.“ Und schon nähert sich der übermotivierte Fahrschüler dem Grenzbereich von oben mit wilden Querstehern, Drehern oder gar einem Kontakt mit der Leitplanke. „Deswegen reduziere ich am Anfang alles ganz bewusst“, klärt Horst auf.

Er wählt den Begriff  vom Heileffekt: „Wer auf der Rennstrecke in den Grenzbereich vorgestoßen ist, braucht im Straßenverkehr nichts mehr zu beweisen“. Erster Zusatz: „Umgekehrt erschrickt der sportlich geschulte Fahrer nicht, wenn es außerhalb der Rennstrecke mal zu überraschenden Situationen kommt. Er weiß, Auto und Fahrer beherrschen auch kritische Momente. Die richtigen Reflexe werden im Kopf auf Festplatte abgespeichert. Da braucht man nicht nachzudenken.“ Zweiter Zusatz: „So ein Fahrtraining ist besser als der Abschluss einer Lebensversicherung!“ Letzter Zusatz: „Wenn einer im Straßenverkehr so fährt wie auf der Piste, ist er entweder wahnsinnig oder halb tot.“

Wieder hinaus auf die Berg- und Tal-Bahn: Sofort wird die Werkzeugkunde umgesetzt. Keine abrupten Lastwechsel, sonst möchte das Heck ausbrechen. Das Lenkrad liegt locker in den Händen, es wird mehr geschoben als gezogen. Mit den Runden wächst das Vertrauen. Kurzes Antippen der Bremse mitten in der Rechts-Links-Kombination wie am Vormittag? Ach was, der Wagen kann auch ohne. Wieder die ruhige Stimme aus dem Funkgerät: „Lenkt so wenig wie möglich“; „am Kurvenausgang muss man schnell sein, nicht am Kurveneingang“; „überlegt, ob der Reifen sich wohlfühlt“. Und dann ein Satz, der auch bei den Schülern im Grenzbereich ein Lächeln auslöst: „Es ist doch schön, wenn man die Dinge ihrem Zweck zuführt.“ Na klar, wo fühlt sich ein sportlicher Wagen wohler als auf der Rennstrecke?

(Redaktion: ramp.space, Fotos: Matthias Mederer)

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